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Vom Sehen der Figuren von Dorothée Rothbrust

Wir begegneten ihnen auf der Strasse, auf dem Platz,
im Garten, am Fluss, manchmal kurz im Vorbeifahren,
andermal geruhsam beim Besuch der Ausstellungen.
Die Figuren sind verbindlich. Niemand muss raten, was
sie zeigen - menschliche Gestalten.

Doch will man ihrer habhaft werden, will man sie "über-
blicken", dann kann sich Überraschendes einstellen.

Holzfiguren

Mit fotographischem Auge sucht man den Ausschnitt,
doch die Figuren sind dünn, schmal, vermischen sich
mit der Umgebung. Ihr Verhältnis von Länge und Breite
lässt beliebige Nähe nicht zu. Überschauend aus der Di-
stanz, drohen ihre Konturen zu verschwimmen.
Im Gegensatz, das lebendige Auge. Es tritt näher, es
muss "auf ihnen herumgehen", muss ihre spärlichen, an-
gedeuteten und doch eindeutigen Konturen nachgehen.

Drahtfiguren

Hier gibt es zwei Ausgangspunkte. Von Weitem auf sie
zukommend zeigt sich ein Drahtgeflecht in menschlicher
Gestalt. Näher dabei, trennt sich plötzlich das filigrane
Eisengewebe, eine zweite Gestalt tritt hervor, ihr zu oder
abgewendet. Hat die erste Figur die zweite geboren?
Mit dieser Frage den Weg zurückverfolgend kann eine
Verschmelzung ins Erleben treten. Ist nun eine Gestalt
in der anderen eingetaucht?

Mit diesen Bewegungen, unseren Bewegungen, fliesst die
Zeit. Sie gestaltet mit. Geht man wiederholt zu den Figu-
ren hin, zeigen sie sich leicht "ginant". Das Licht ent-
scheidet mit, was wir an ihnen kennenlernen. Morgen,
Abend oder Dämmerung, was die Tageszeit mit ihrem
Licht den Figuren an sichtbarem Raum bereitet, in ent-
sprechender Art treten sie hervor, zeigen sich und "spre-
chen" mit uns, oder verharren "schweigend".

Was ich an diesen Werken kennenlernte ist, die Gestalten
sind durchaus in der Wirklichkeit, aber nicht als Abbilder
für das Anschauen, sondern als kunstvolle Erfindungen
eines mich einbeziehenden Prozesses, eines Prozesses,
den ich durchaus mit "Begegnung" betiteln kann. Begeg-
nung mit den Figuren, Begegnungen der Gestalten unter-
einander selbst, in ihren Variationen, Begegnung mit
dem Licht und mit meinem mitlebenden Auge.

Begegnung wird so Tat-Sache, eine Tatsache, mit der ich
mittun muss, wenn ich sie nicht übersehen möchte.
Damit zeigt sich mir aber auch die "Wirklichkeit" nicht
mehr als Fertiges, vor mir Stehendes, dass ich bloss an-
schauen kann, sondern als ein Prozess, an dessen Gelin-
gen ich beteiligt bin.

Rolf Müller